Was tun, wenn das Leben plötzlich zusammenbricht? Man verwandelt diesen Zustand in einen kreativen Akt. Als die New York Times-Bestsellerautorin und Emmy-prämierte Journalistin, Suleika Jaouad, im Alter von 22 Jahren mit der Diagnose Leukämie konfrontiert wurde, fand sie im Tagebuchschreiben ihren Halt. Ihre täglichen Einträge entwickelten sich schon bald zu Life, Interrupted, einer Kolumne für die New York Times, und später zu einem Bestseller-Buch, Between Two Kingdoms.
Seitdem setzt sich Jaouad als leidenschaftliche Aktivistin für Menschen ein, die mit einer Krankheit leben müssen. Sie war Mitglied des Presidential Cancer Panel von Barack Obama, sprach auf der TED-Bühne, bei den Vereinten Nationen und im Capitol Hill. Um anderen Mut zu machen, haben sie und ihr Ehemann, der Grammy- und Oscar-prämierte Komponist Jon Batiste, in der Netflix-Dokumentation American Symphony vor kurzem gar ihre schwersten und glücklichsten Momente in einem intimen Porträt geteilt.
Anlässlich des Weltfrauentages sprachen wir mit Akris Woman of Purpose, Suleika Jaouad, über die Akzeptanz von Veränderung, Frida Kahlo als Inspiration und das Krankenhaus als kreativen, künstlerischen Ort.
Sie haben sich entschlossen, Ihre Erfahrungen mit Krebs öffentlich zu machen. Eine schwierige Entscheidung. Warum ist es Ihrer Meinung nach wichtig, Verletzlichkeit zu zeigen?
Wenn wir es wagen, unsere verletzlichsten, ungeschminkten Geschichten zu erzählen, erzeugen wir ein Echo, bei dem aus dem "Ich" schnell ein "Du" und dann ein "Wir" wird. Wir lernen, dass wir uns ähnlicher sind als das uns Gegensätze unterscheiden, und dass nichts, womit wir persönlich zu kämpfen haben, unbekannt ist.
Was hoffen Sie, dass andere Menschen aus Ihrer Geschichte mitnehmen?
Wenn man sich in einer schwierigen Situation befindet, steht man vor der Wahl: Man kann in Wut oder Schmerz verharren oder neugierig auf diese Situation sein. Als ich in der Lage war, neugierig zu werden auf das was kommt, hat das zu meinen tiefgreifendsten Wachstumsphasen geführt, sowohl persönlich als auch kreativ.
Ich hoffe, dass jemand, der sich inmitten einer grossen Lebensunterbrechung befindet, sich diesen Wandel durch mich eher als notwendige Veränderung vorstellen kann. Wie ein Kokon. Selbst wenn man sich zerbrechlich und larvenartig fühlt, sollte man darauf vertrauen, dass in dem Kokon etwas Heiliges und Transformatives geschieht. Ich hoffe, dass meine Arbeit Begleitung und Gelegenheit zum Nachdenken bietet, während wir den Raum zwischen "nicht mehr" und "noch nicht" durchqueren.
Tagebuch schreiben und in letzter Zeit auch malen haben Ihnen in schwierigen Zeiten geholfen. Was bedeutet die Kraft der Kreativität für Sie?
Das Leben eines jeden Menschen wird irgendwann einmal unterbrochen, sei es durch die Reissleine einer Diagnose oder durch eine andere Art von Herzschmerz oder Verlust, der einen zu Boden wirft. Das ist einfach Teil des Lebens. Wenn man so niedergeschlagen ist, kann man sich das Überleben als kreativen Akt vorstellen, um das, was einen plagt, in etwas Nützliches und Nahrhaftes, vielleicht sogar Schönes umzuwandeln.
Kreativität ist eine Gabe, zu der wir alle Zugang haben, ob Sie sich nun als "kreativ" betrachten oder nicht. Alles, was wir tun, erfordert Kreativität, ob es nun darum geht, einen Konflikt mit einem geliebten Menschen zu lösen oder einfach ein Gespräch zu führen. Kreativität gibt uns die Kraft, uns vorzustellen, was möglich ist, und unsere Vorstellungskraft zu nutzen, um Lösungen zu finden.
Während der Pandemie haben Sie die Isolation Journals gegründet, eine Community für kreatives Schreiben, um Menschen zusammenzubringen. Wie sehen die Isolation Journals heute aus?
Die Isolation Journals (Seite auf Englisch) sind der wöchentliche Newsletter, der jeden Sonntag direkt in Ihren Posteingang geliefert wird. Aber es ist so viel mehr als das. Es ist eine vielfältige und aktive Gemeinschaft von mehr als 155.000 Menschen jeden Alters und jeder Herkunft aus der ganzen Welt. Unser Ziel ist es, herauszufinden, wie wir Kreativität als Mittel einsetzen können, um Isolation und die Unterbrechung des Lebens in kreatives Material zu verwandeln.
Ich habe mein ganzes Leben lang Tagebuch geführt, und zwar seit ich alt genug war, einen Stift zu halten. Was ich am Tagebuchschreiben liebe, ist, dass es die am wenigsten unter Druck stehende Form des kreativen Schreibens ist. Es ist kein schönes oder gar grammatikalisch korrektes Schreiben, aber es ist ein Schreiben, das nur für einen selbst bestimmt ist. Man nimmt sich den Raum und die Zeit, um nachzudenken, den Gedankenstrudel im Kopf zu durchforsten und Erinnerungen festzuhalten. Ich beschreibe das Schreiben von Tagebüchern oft als mein Versteck und meinen Findungsort. Es ist der Ort, an dem ich meine wichtigsten Erkenntnisse erhalte.
Jede Woche teile ich im Sonntags-Newsletter meine Gedanken über alles Mögliche mit, von der kreativen Praxis bis zu neuen Ideen, mit denen ich mich auseinandersetze. Wir stellen auch Essays von Gastautoren als Anregung für das Tagebuch vor. Es ist erstaunlich, dass so viele verschiedene Stimmen zu Wort kommen, von bekannten Schriftsteller:innen, Musiker:innen und Künstler:innen bis hin zu Lou Sullivan, der im Alter von sechs Jahren schon zweimal einen Hirntumor überlebte. Ich betrachte die Journals als die freundlichste, einladenste Nische im Internet.
In Ihrem Buch erwähnen Sie, dass Vergänglichkeit und Ungewissheit zwar eine Tatsache des Lebens sind, wir aber dazu neigen, sie zu leugnen. Wie hat sich Ihr Verhältnis zu Unbeständigkeit und Unsicherheit verändert? Wie hat sich dadurch Ihre Sicht auf das Leben verändert?
In diesem Ozean der Ungewissheit zu schwimmen, ist meine ständige Herausforderung. Es ist unser aller ständige Herausforderung, insbesondere in den letzten Jahren, seitdem unsere Welt auf den Kopf gestellt scheint und wir uns alle mit grossen Veränderungen auseinandersetzen müssen – sowohl global als auch persönlich. Gerade jetzt befinde ich mich in meinem Leben in einem erhöhten Zustand der Unsicherheit. Nachdem ich fast ein Jahrzehnt ohne Tumorzellen, ohne Krebs, gelebt habe, erfuhr ich vor zwei Jahren, dass meine Leukämie zurückgekehrt ist. Dieses Mal wird die Behandlung auf unbestimmte Zeit sein. Bei dem Wort "unbestimmt" möchte man sich am liebsten ins Bett verkriechen, die Decke über den Kopf ziehen und nie wieder auftauchen. Aber ich musste mich dieser Ungewissheit stellen und trotzdem weitermachen, weil ich mein Leben nicht im Bett unter der Bettdecke verbringen will.
Die Wahrheit ist, dass wir die schönsten und tollsten Pläne haben können, aber niemand von uns weiss, wohin uns unser Leben führen wird. Anstatt mich mit Angst zu erfüllen, versuche ich, mich auf das Abenteuer und das Geheimnis der Ungewissheit einzulassen, denn Ungewissheit kann auch grosse, unerwartete Freude hervorbringen.
Wir haben von Ihrer "To-feel" -Liste gelesen - das klingt vielversprechend. Können Sie erklären, was das ist?
Die "To-Feel-Liste" war ein Essay und eine Aufforderung zum Tagebuchschreiben in den Isolation Journals, die sich der Illustratorin Sky Banyes ausgedacht hat. Wir leben in einer Kultur, die von Hektik und Produktivität besessen ist, und unser Selbstwertgefühl wird so oft an unserem Output gemessen. Manchmal habe ich das Gefühl, mich in einem Hochgeschwindigkeits-Hamsterrad zu befinden, und es gibt wirklich kein Ende dieses Dauerlaufs.
Wir wissen aus der aktuellen Krise der psychischen Gesundheit, vor allem bei jungen Menschen und Teenagern, wie ungesund diese Denkweise ist. Anstatt eine To-Do-Liste zu erstellen, finde ich die Idee gut, die Aufgaben für den Tag in einer Art Gefühlsliste zu verankern und diese als Ziel zu betrachten.
Der Internationale Frauentag steht vor der Tür. Welche Frau bewundern Sie am meisten?
Frida Kahlo ist meine grösste Inspirationsquelle. Schon als Teenager bis zu meiner Erkrankung mit 22 Jahren, was ungefähr dasselbe Alter ist, indem Frida einen schrecklichen Unfall erlitt, der sie bettlägerig und für einen Grossteil ihres Lebens krank machte. Sie ist ein Beispiel für die schwierigste Aufgabe, die uns im Leben gestellt werden kann: im Schmerz einen Sinn zu finden.
Von ihrem Bett aus begann sie, die Selbstporträts zu malen, die sie zu einer der produktivsten Künstlerinnen aller Zeiten machen sollten. Inspiriert von ihr begann ich, von meinem Krankenhausbett aus Selbstporträts zu schreiben, während ich versuchte, diesen Raum der Enge in einen Raum zu verwandeln, der vor Bedeutung und Möglichkeiten glüht. Ich betrachte sie als mein Polarstern, wenn es darum geht, meine eigenen gesundheitlichen Herausforderungen und kreative Arbeit zu meistern.
Bei Akris feiern wir Women with Purpose. Warum glauben Sie an einen Sinn, ein Ziel im Leben?
Seine "Bestimmung" zu finden, kann sich für viele von uns entmutigend anfühlen, vor allem für junge Menschen, die noch dabei sind, ihren Weg zu finden und herauszufinden, was sie in der Welt beitragen wollen. Ich ziehe es vor, das Wort "Sinn" oder "Ziel" durch "Neugier" zu ersetzen. Das scheint mir ein sanfterer, organischerer Zugang dazu zu sein. Ich bin immer dem Weg des Staunens und der Intuition gefolgt, ohne zu wissen, wohin mich dieser führen wird, und ohne mir Sorgen zu machen, worauf das alles hinauslaufen wird.
Ich glaube auch fest daran, dass wir unseren Sinn im Leben immer wieder neu definieren und uns auf dem Weg dorthin neu erfinden können. Sinn ist nichts Statisches, sondern etwas, das sich ständig weiterentwickelt und weiterentwickelt werden sollte.